(© Melanie Vogel) Wenn wir heute über Liebe sprechen, dann denken die meisten sofort an Romantik, Leidenschaft und die eine besondere Person, die unser Herz höher schlagen lässt. Doch genau dieses Verständnis von Liebe hält Erich Fromm, einer der bedeutendsten Psychologen und Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts, für eine gefährliche Illusion. In seinem Werk „Die Kunst des Liebens“ (1956) stellt er die provokante These auf: Liebe ist keine emotionale Reaktion auf eine bestimmte Person – sie ist eine umfassende Lebenshaltung.
Liebe als Charakterorientierung
Fromm argumentiert, dass wahre Liebe viel weiter geht als die Bindung an eine einzige Person. Liebe ist eine innere Haltung, eine Charakterorientierung, die bestimmt, wie wir grundsätzlich mit Menschen und der Welt umgehen. Wer wirklich lieben kann, liebt nicht nur einen Menschen, sondern bringt diese liebevolle Grundhaltung allen Wesen und der Welt insgesamt entgegen.
Das bedeutet: Liebe ist keine passive Reaktion auf den „richtigen Menschen“, sondern eine aktive Kraft – ein Ausdruck der eigenen Seele.
Die Illusion der perfekten Person
Ein zentraler Irrtum, den Fromm entlarvt, ist die weit verbreitete Vorstellung, dass wahre Liebe einfach darin besteht, die „richtige“ Person zu finden. Viele glauben, dass Liebe dann von alleine passiert, wenn das perfekte Gegenüber auftaucht. Doch genau das hält Fromm für eine infantile und egoistische Sichtweise. Er bringt es auf den Punkt:
Wenn eine Person nur eine andere Person liebt und dem Rest ihrer Mitmenschen gleichgültig ist, ist ihre Liebe keine Liebe, sondern eine symbiotische Beziehung oder ein erweiterter Egoismus.
Liebe ist eine Kunst – und Kunst erfordert Übung
Um zu verdeutlichen, warum wahre Liebe eine aktive Fähigkeit ist, nutzt Fromm ein einprägsames Bild: Liebe ist wie Malerei. Wer malen möchte, muss lernen, üben, Geduld haben – und vor allem eine echte Leidenschaft für die Kunst entwickeln. Wer stattdessen glaubt, er müsse nur das perfekte Motiv finden, um ein Meisterwerk zu schaffen, hat den Kern der Sache nicht verstanden.
Genauso ist es mit der Liebe: Es geht nicht darum, die perfekte Person zu finden, sondern darum, die eigene Fähigkeit zu lieben kontinuierlich zu kultivieren – durch Fürsorge, Respekt, Verantwortung und Wissen.

Liebe als Schlüssel zum Menschsein
Fromms Perspektive ist dabei nicht nur eine Kritik an romantischen Illusionen, sondern auch eine Einladung zur persönlichen Weiterentwicklung. Er sieht Liebe als eine produktive Orientierung, die Türen öffnet – Türen zum Wachstum, zur Reifung und zur echten Verbundenheit mit der Welt.
Liebe ist eine produktive Orientierung: Man muss sich für das, womit man eins werden will, interessieren, sich für es verantwortlich fühlen, es achten und es verstehen.
Fazit: Liebe als Lebenshaltung statt Liebeszauber
Was Fromm uns lehrt, ist zeitlos aktuell: Wahre Liebe beginnt nicht bei einer anderen Person – sie beginnt bei uns selbst. Wer lieben will, muss lernen zu lieben. Nicht durch das Warten auf den oder die Richtige, sondern durch die tägliche Praxis, sich der Welt mit Interesse, Respekt und Verständnis zuzuwenden.
Liebe ist keine Magie. Liebe ist Kunst. Und Kunst braucht Hingabe.