(© Melanie Vogel) Mitochondrien, häufig als die “Kraftwerke der Zellen” bezeichnet, spielen eine zentrale Rolle bei der Energieproduktion im menschlichen Körper. Doch neuere Forschungen deuten darauf hin, dass diese kleinen Organellen weitaus mehr leisten könnten, als nur Energie bereitzustellen: Sie könnten eine Schlüsselrolle bei Angstzuständen, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen spielen.
Ein radikaler Perspektivwechsel in der Neurowissenschaft
Lange Zeit konzentrierte sich die Neurowissenschaft auf Synapsen und neuronale Netzwerke, um die Ursachen von Angst und Depression zu erklären. Doch Carmen Sandi von der ETH Lausanne fand in einer Studie aus dem Jahr 2013 erste Hinweise darauf, dass Mitochondrien in bestimmten Gehirnregionen eine entscheidende Rolle spielen könnten. Ihre Forschung zeigte, dass bei ängstlichen Ratten die Mitochondrien in den betroffenen Gehirnzellen gestört waren und nicht genügend Energie produzierten.
Diese Erkenntnis wurde anfangs von vielen Forschern skeptisch betrachtet. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern der Idee angeschlossen, dass Mitochondrien nicht nur für die körperliche, sondern auch für die geistige Gesundheit entscheidend sind.
Die Verbindung zwischen Stress und Mitochondrien
Mitochondrien sind nicht nur passive Energieproduzenten, sondern spielen eine aktive Rolle bei der Verarbeitung von Stress. Als Vermittler synthetisieren sie das Stresshormon Cortisol, das in den Nebennieren produziert wird und durch den Blutkreislauf transportiert wird. Cortisol aktiviert zahlreiche Gene und bereitet den Körper auf die “Kampf-oder-Flucht”-Reaktion vor. Gleichzeitig werden Mitochondrien selbst durch Stress belastet: Sie reagieren auf die gesteigerte Nachfrage nach Energie, indem sie ihre Leistung anpassen, stoßen dabei jedoch auch schädliche Sauerstoffmoleküle, sogenannte reaktive Sauerstoffspezies, aus. Diese Moleküle können Zellschäden verursachen und sind mit einer Vielzahl von Erkrankungen verbunden. Diese Doppelfunktion macht die Mitochondrien zu einer entscheidenden Schnittstelle zwischen der physiologischen Stressreaktion und möglichen Zellschäden.
Veränderungen der Mitochondrien unter Stress
Unter Stress passen sich Mitochondrien dynamisch an. Sie ändern ihre Form, verschmelzen miteinander oder teilen sich, um den Energiebedarf der Zellen zu decken. Diese Prozesse, bekannt als mitochondriale Fusion und Spaltung, sind entscheidend für ihre Funktionalität. Wenn diese Mechanismen jedoch gestört werden, können Zellen irreparablen Schaden nehmen, was insbesondere in Gehirnzellen schwerwiegende Folgen haben kann. Wissenschaftler haben zudem herausgefunden, dass Mitochondrien unter Stress kurze Fragmente ihrer DNA freisetzen. Diese Fragmente werden normalerweise bei Zellverletzungen oder Entzündungsprozessen beobachtet und könnten eine wichtige Rolle bei stressbedingten Erkrankungen spielen. Derartige Veränderungen zeigen, wie eng Mitochondrien mit den komplexen Prozessen der Stressbewältigung verbunden sind.
Zusammenhang mit psychischer Gesundheit
Die Bedeutung der Mitochondrien für die psychische Gesundheit zeigt sich besonders in ihrem Einfluss auf energieintensive Gehirnregionen wie den Nucleus accumbens und den Hippocampus. Der Nucleus accumbens ist entscheidend für Motivation und Anstrengungsbereitschaft, während der Hippocampus eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen, Stress und Gedächtnisbildung spielt. Ein Energiemangel in diesen Bereichen kann Symptome wie Antriebslosigkeit, Angst und Depression verstärken. Darüber hinaus deutet die Forschung darauf hin, dass eine reduzierte ATP-Produktion unter Stress die Zellteilung und somit die Bildung neuer Neuronen beeinträchtigen kann – ein Prozess, der insbesondere im Hippocampus wichtig ist. Dies könnte erklären, warum chronischer Stress so häufig mit psychischen Störungen in Verbindung gebracht wird.
Neue Ansätze für Therapien
Die Forschung zu Mitochondrien und psychischer Gesundheit steht noch am Anfang, aber die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. Sie zeigen, dass psychische Gesundheit nicht nur eine Frage von Neurotransmittern und Synapsen ist, sondern auch von der Energieversorgung der Zellen abhängt. Mitochondrien könnten der Schlüssel sein, um neue, effektive Ansätze zur Behandlung von Angst und Depression zu entwickeln – und damit Millionen von Menschen zu helfen.
Die nächsten Jahre werden zeigen, wie diese Erkenntnisse in konkrete Therapien umgesetzt werden können. Eines ist jedoch sicher: Die kleinen “Kraftwerke der Zellen” haben eine große Rolle in unserem geistigen Wohlbefinden.