(© Melanie Vogel) Wir alle benutzen das Wort Vergebung. Doch der Begriff und die dahinter liegende Bedeutung sind vage und interpretationswürdig. In einer Studie (2013–2023) hat der Psychologe Robert Enright mit seinem Team acht Definitionen aus wissenschaftlichen Fachartikeln analysiert. Das Ergebnis? Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen von Vergebung – und viele davon sind zu eng gefasst.
Die acht Definitionen von Vergebung
- Vergebung als Entscheidung oder Emotion:
Entweder man beschließt zu vergeben – oder man fühlt sich nicht mehr feindlich gesinnt. Beide Wege gelten als Vergebung. - Vergebung als Emotionsregulation:
Vergebung bedeutet hier, weniger Wut oder mehr Mitgefühl zu empfinden – ohne dass Gedanken oder Verhalten eine Rolle spielen. - Vergebung als Abbau negativer Reaktionen:
Nur der Rückgang von Hass, Ärger oder Rache zählt – Mitgefühl oder Empathie hingegen nicht. - Vergebung als Zustand oder Eigenschaft:
Man verhält sich aktuell vergebend (Zustand) – oder ist grundsätzlich ein vergebender Mensch (Eigenschaft). - Vergebung als reine Motivation:
Der bloße Wunsch zu vergeben wird hier bereits als Vergebung angesehen. - Vergebung gegenüber unbelebten Ereignissen:
Z. B. „Ich vergebe dem Sturm“ – also etwas außerhalb menschlicher Kontrolle. - Verwandte Erfahrungen:
Etwa, jemandem den Benefit of the doubt geben oder Ungerechtigkeit dulden. - Umfassende Vergebung:
Der umfassendste Ansatz: negative Gefühle, Gedanken und Handlungen abbauen und gleichzeitig positive aufbauen. Dabei geht es nicht ums Verzeihen, sondern ums aktive Wohlwollen, ohne dabei Ungerechtigkeit zu entschuldigen oder zwangsläufig zu versöhnen.
Für Enright ist diese letzte Definition die zutreffendste – weil sie der Komplexität von Vergebung als Beziehungsprozess gerecht wird.
Vergebung als moralische Tugend: Liebe statt Schwäche
Wenn wir Vergebung so verstehen, dass wir dem anderen Gutes wünschen, auch wenn er uns Unrecht getan hat, dann ist Vergebung eine moralische Tugend – wie Gerechtigkeit, Geduld oder Güte.
Und was ist die höchste Form dieses Guten? Nicht bloß Respekt – sondern Agape, also selbstlose Liebe. Die Bereitschaft, jemandem etwas Gutes zu tun, auch wenn es schwerfällt.
Das bedeutet nicht, dass man sich selbst aufgibt. Im Gegenteil: Man kann vergeben und trotzdem für Gerechtigkeit eintreten. Man kann vergeben, ohne zu versöhnen. Und man kann vergeben, ohne das Verhalten des anderen zu rechtfertigen.
Praktische Vergebung: Der Weg ist das Ziel
Nicht jeder Mensch wird sofort in der Lage sein, auf höchster Ebene zu vergeben – das ist normal. Wie bei einem Marathon beginnt man klein. Entscheidend ist: Vergebung ist ein Prozess, den man üben kann. Jack Kornfield, ein buddhistischer Lehrer, bringt es auf den Punkt:
“Vergebung ist Arbeit mit den Emotionen, mit dem Geist – und in unseren Beziehungen.”
Fünf häufige Kritikpunkte – und Antworten
- „Vergebung ist Schwäche.“
Falsch. Vergebung schließt Gerechtigkeit nicht aus. Sie ist sogar ein Zeichen von Stärke. - „Vergebung lädt zu weiterem Unrecht ein.“
Nein. Wer vergibt, darf und soll sich trotzdem gegen Ungerechtigkeit wehren. - „Vergebung senkt das Selbstwertgefühl.“
Im Gegenteil: Studien zeigen, dass sich Selbstwert verbessert, wenn man vergibt. - „Vergebung macht andere nur schuldig.“
Schuld kann ein erster Schritt zur positiven Veränderung sein – nicht zur Verurteilung, sondern zur Einsicht. - „Vergebung gefährdet die Rechtsprechung.“
Vergebung ist kein juristischer Freispruch. Man kann vergeben – und trotzdem fordern, dass Straftäter Verantwortung tragen.
Wie Vergebung unser Gehirn verändert
Was passiert im Gehirn, wenn wir vergeben? Laut neurowissenschaftlicher Forschung werden dabei drei zentrale Systeme im Gehirn aktiviert, die nicht nur beim Vergeben helfen, sondern auch unser allgemeines Wohlbefinden fördern:
1. Empathie und Perspektivenübernahme
Vergebung beginnt oft mit dem Versuch, sich in die andere Person hineinzuversetzen. Dabei werden folgende Bereiche aktiviert:
- Anteriore Insula – verarbeitet sowohl eigene Emotionen als auch emotionale Signale anderer Menschen.
- Temporoparietaler Übergang (TPJ) und oberer Temporalsulcus (STS) – helfen, Gedanken und Absichten anderer zu verstehen.
- Medialer präfrontaler Cortex (mPFC), Precuneus und posteriärer cingulärer Cortex (PCC) – ermöglichen Vergleich und Abgrenzung eigener und fremder Erfahrungen.
Diese Hirnareale helfen uns zu erkennen, dass das Verhalten der anderen Person vielleicht durch äußere Umstände beeinflusst war – und dass anhaltender Ärger uns selbst schadet, ohne Gerechtigkeit herzustellen.
2. Bewältigung und kognitive Kontrolle
Das zweite System hilft dabei, Emotionen zu regulieren und belastende Erfahrungen umzudeuten:
- Dorsolateraler (dlPFC) und ventrolateraler präfrontaler Cortex (vlPFC)
- Dorsaler anteriorer cingulärer Cortex (dACC)
Diese Regionen helfen uns, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu lenken und uns selbst zu beruhigen. Vergebung bedeutet hier, gezielt Handlungen zu wählen, die heilsam sind – z. B. ein Gespräch mit einer vertrauten Person oder ein Spaziergang in der Natur.
3. Soziale Entscheidungsfindung
Dieses System bewertet Handlungsoptionen im sozialen Kontext:
- Orbitaler Frontallappen (OFC)
- Ventromedialer präfrontaler Cortex (vmPFC)
Diese Strukturen helfen uns, unsere Energie von Rache und Wut abzuwenden und sie auf sinnvolle Ziele zu richten – etwa Selbstmitgefühl oder konstruktive Veränderung. Allein der Entschluss, vergeben zu wollen, ist hier bereits ein kraftvoller erster Schritt.
FAzit: Vergebung heilt – und verändert
Vergebung ist kein passives Erdulden, sondern ein aktiver mentaler Prozess, der unsere Fähigkeit zur Empathie, Emotionsregulation und sinnorientierten Entscheidungsfindung stärkt. Durch wiederholte Übung fördern wir auch unser emotionales Wohlbefinden und unsere sozialen Beziehungen – langfristig und nachhaltig.
Vergebung bedeutet: den Mut zu haben, trotz Schmerz das Herz weich zu machen. Sie heißt, bewusst das Gute zu wählen – selbst dort, wo es schwerfällt.
Und sie beginnt nicht bei anderen – sondern in uns selbst.



