(© Melanie Vogel) Der Begriff Parentifizierung beschreibt ein Phänomen, bei dem Kinder Aufgaben, Rollen oder Verantwortlichkeiten übernehmen, die eigentlich den Erwachsenen zustehen. Das kann zwei Formen annehmen:
- Instrumentelle Parentifizierung – das Kind übernimmt praktische Aufgaben (z. B. Haushalt, Betreuung jüngerer Geschwister, Organisation des Alltags).
- Emotionale Parentifizierung – das Kind tröstet, stabilisiert oder reguliert die Gefühle der Eltern (z. B. bei Streit, Depression, Alkoholmissbrauch oder Einsamkeit).
Diese Rollen entstehen meist nicht bewusst oder böswillig. Oft stehen Eltern selbst unter Druck – durch Krankheit, Armut, Trennung, eigene Traumatisierung. Das Kind reagiert auf die Not des Systems und versucht, das Gleichgewicht zu halten.
Parentifizierte Kinder sind kleine Helden – aber sie bezahlen den Preis mit ihrer Kindheit.
Wie Parentifizierung entsteht
Ein Kind kann emotional kaum unterscheiden, ob es etwas „freiwillig“ tut oder ob das Überleben der Familie davon abhängt. Wenn etwa die Mutter häufig traurig ist und das Kind erlebt, dass sie aufblüht, sobald es „brav“ oder fürsorglich ist, verknüpft das Gehirn:
„Ich muss mich kümmern – sonst wird sie traurig.“
Diese Dynamik entsteht oft in Familien, in denen Erwachsene überfordert, krank oder selbst traumatisiert sind. Manchmal sind es subtilere Signale: der Blick, der sagt „Sei stark für mich“, oder das Schweigen, das spüren lässt, dass Schwäche verboten ist.
So lernen Kinder früh, ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken. Sie entwickeln Überverantwortung und oft eine übersteigerte Empathie – sie spüren die Stimmungen anderer, bevor sie die eigenen Gefühle wahrnehmen.
Gerade in Nordeuropa zeigt die Geschichte des Familienlebens, dass Eltern schon lange von ihren Kindern erwachsene Leistungen und Verhaltensweisen erwarten. Es ist gut dokumentiert, dass die Nichtanerkennung der Kindheit als eigene Lebensphase zu verschiedenen Formen des Kindesmissbrauchs führte, darunter auch die unfaire Ausbeutung von Kindern durch ihre Eltern, um deren eigene Bedürfnisse zu befriedigen.
Die psychologische Logik dahinter
Psychologisch betrachtet handelt es sich bei Parentifizierung um eine Überlebensstrategie:
Das Kind versucht, Kontrolle über eine unkontrollierbare Situation zu gewinnen. Indem es sich kümmert, vermeidet es Angst und Hilflosigkeit. Kurzfristig ist das funktional, langfristig jedoch problematisch, weil das Kind nie lernt, selbst gehalten zu werden. Im Erwachsenenalter zeigt sich das möglicherweise als:
- starkes Bedürfnis, anderen zu helfen (bis zur Erschöpfung)
- Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen
- Schuldgefühle beim Nein-Sagen
- Gefühl, „nicht genug“ zu leisten
- häufige Erschöpfung, Burn-out oder psychosomatische Beschwerden
Parentifizierung im Erwachsenenleben
Im Erwachsenenalter zeigt sich Parentifizierung häufig in Beziehungen und Beruf:
- Partnerwahl: Man zieht Partner:innen an, die Hilfe brauchen (Sucht, emotionale Instabilität).
- Berufswahl: Pflege, Beratung, Pädagogik, Soziales – Felder, in denen „Kümmern“ belohnt wird.
- Beziehungsmuster: Man fühlt sich nur dann wertvoll, wenn man gebraucht wird.
Im Kern steckt der alte Glaubenssatz: „Ich bin nur liebenswert, wenn ich funktioniere.“ Dadurch geraten viele in Überlastung oder emotionale Ausbeutung. Nicht, weil sie „schwach“ sind oder es nicht – eigentlich – besser wissen, sondern weil ihr inneres Navigationssystem so programmiert wurde.
Die Folgen: Verlust der Selbstwahrnehmung
Wenn ein Mensch über Jahre gelernt hat, die Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen, verliert er den Kontakt zu sich selbst. Man spricht hier von einer Selbstentfremdung. Typische Folgen können sein:
- Schwierigkeit, eigene Wünsche zu benennen
- chronische Anspannung oder Müdigkeit
- diffuse Schuldgefühle („Ich tue nie genug“)
- Gefühl innerer Leere oder Sinnverlust
Neurowissenschaftlich gesehen ist das Gehirn dauerhaft auf Außenorientierung eingestellt. Es sucht Sicherheit in der Reaktion anderer, nicht im eigenen Erleben.
Fazit
Parentifizierung ist keine Charakterschwäche, sondern eine Anpassung an Überforderung. Doch was einst Schutz war, kann später zur Belastung werden.
Heilung bedeutet, das eigene „innere Kind“ zu entlasten und erwachsen zu werden, ohne die Lebendigkeit zu verlieren.
Selbstfürsorge ist kein Egoismus – sie ist nachgeholte Kindheit.
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